23.03.2016
Einen lesenswerter Kommentar von Markus Feldenkirchen (spiegel-online) zu den Terroranschlägen von Brüssel:
„Trauer wird vergehen, die Wut verblassen – die Angst bleibt. Nach den Anschlägen von Brüssel dürfen wir uns nicht zu Geiseln unserer Gefühle machen lassen. Dann hätten die Feinde der offenen Gesellschaft gewonnen.
Jetzt ist vor allem die Zeit der Trauer. Sie braucht Raum und Zeit. Wären wir nicht traurig, hätten wir uns bereits eingerichtet im Zeitalter des Terrorismus, das die Dschihadisten uns aufzwingen wollen. Und die Fähigkeit zu trauern ist schon deshalb so wertvoll, weil sie uns von jenen traurigen Gestalten unterscheidet, die sich von nichts mehr rühren lassen. Die sich Gotteskrieger nennen, obwohl ihnen nichts mehr heilig ist – auch keine Menschenleben.
…Die Zeit der Wut, so nachvollziehbar sie ist, sollten wir möglichst rasch überwinden. Wut ist selten ein vorteilhafter Antrieb, sie verleitet zur Irrationalität. Dazu, dass kluge, aufgeklärte Gesellschaften weit unter ihren Möglichkeiten bleiben. Würden wir uns von unserer Wut leiten lassen, hätten uns die Terroristen dort, wo sie uns haben wollen: auf derselben zivilisatorischen Stufe, von der aus sie uns bekämpfen. Wir sollten unsere Feinde mit unseren Stärken bekämpfen, unserem Wissen, unserer Technik. Wir sollten uns von unserer Vernunft, nicht unseren Bäuchen leiten lassen.
Leider sind diese Stunden auch die Zeit der Besserwisser und Zyniker. Dass Menschen wie die AfD-Politiker Marcus Pretzell und Beatrice von Storch die Tragödie von Brüssel missbrauchen, um vermeintliche Punkte in ihrem Kampf gegen die Flüchtlingspolitik zu machen, ist erbärmlich. Aber die offene Gesellschaft muss auch Dummheit und Niedertracht aushalten.
Wenn die Trauer verblasst ist, die Zyniker verschämt sind und die Wut unter Kontrolle ist, wird etwas bleiben: die Angst. Angst hat etwas Konstruktives, weil sie uns wachsam hält.
Eine offene Gesellschaft ist weder zur Naivität noch zur Wehrlosigkeit verdammt. Sie muss Polizei und Geheimdienste bei veränderter Bedrohungslage gezielt stärken, sie muss sich selbst immer wieder infrage stellen. Dass die Behörden in Europa zum Teil noch immer national vor sich hinwurschteln, als gäbe es weder eine Gemeinschaft noch offenen Grenzen, dass Datenbanken über potenzielle Terroristen nicht miteinander vernetzt sind, ist ein Unding und muss schleunigst behoben werden.
…Die Angst kann uns aber auch schaden, sie kann uns zu Menschen machen, die wir nie sein wollten – und zu einer Gesellschaft, die nicht länger offen und frei ist. Wir sollten uns aus Angst vor den Terroristen nicht in einen Überwachungs- und Polizeistaat verwandeln. Es sind verständliche, urmenschliche Reflexe, die hinter dieser Sehnsucht nach Kontrolle und Überschaubarkeit stecken. Und doch wäre es die völlig falsche Reaktion, sich ihnen hinzugeben.
Wir dürfen auch nicht zulassen, dass die Menschenfeinde uns nötigen, unsere humanitären Grundsätze, dargelegt etwa in der Genfer Flüchtlingskonvention, abzulegen. Auch die offene Tür, gerade für Schutzbedürftige, ist der Kern einer offenen Gesellschaft.
Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen, so schwer das an diesem Tag nach Brüssel auch scheinen mag. Wir sollten weiter Konzerte oder Fußballspiele besuchen, sollten weder die Bahn noch das Flugzeug scheuen. Wir sollten uns weiter dafür einsetzen, dass Schutzbedürftige bei uns Sicherheit finden, ganz egal ob sie Atheisten, Muslime oder Zeugen Jehovas sind.
Würden wir all das aufgeben und unserer Angst verfallen, würden wir uns selbst verleugnen, unseren Glauben an Freiheit und Menschlichkeit. Einen größeren Triumph könnten wir den Feinden der offenen Gesellschaft nicht bescheren. Diese Selbstverleugnung, so hart es klingt, wäre schlimmer als weitere Anschläge.“