Gestern Abend fand in der evangelisch reformierten Petri-Kirchengemeinde um 21.00 Uhr hier in Herford ein Friedensgebet statt. Dort wurde ein aktueller Text von Stephan Wahl, er ist katholischer Theologe und arbeitet als Seelsorger und Autor in Jerusalem, vorgelesen. Dieser Text hat mich sehr berührt und deswegen gebe ich ihn hier ungekürzt wieder. Der Text ist außerdem nachzulesen in der heutigen Ausgabe “ Christ in der Gegenwart“.
„ Ich weiß, meine Worte ändern nichts und bedeuten wenig, aber es tut mir so leid, was mein Volk eurem Volk antut.“
Das schreibt ein junger Muslim aus Gaza an eine befreundete Israelin. Ich lese das im Internet hier im arabischen Ostjerusalem während die Warnapp pausenlos ertönt und die Orte nennt, zu denen Raketen aus Gaza unterwegs sind. Diese wenigen, hilflosen Zeilen bewegen mich. Und ich weiß, dass er nicht der einzige Palästinenser ist, der so denkt und fühlt.
Natürlich erschaudere ich, wenn ich beim Ertönen der Sirene und den darauf folgenden Detonationen im Umraum Jerusalems, Beifall auf den Dächern und Balkonen sehe. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass der Generalverdacht und die Gleichung Hamas=Palästinenser=Terroristen nicht stimmt, auch wenn die Sympathisanten dieser skrupellosen, verbrecherischen Mörderbande sich eher zeigen als diejenigen, die den gleichen Abscheu empfinden wie ich. Viele trauen sich nicht, dies zu zeigen, wie der junge Mann aus Gaza, der einverstanden war, dass seine israelische Freundin seine berührenden Zeilen in den Social Medias postet. Ich wünschte, diese Stimmen wären lauter, wären ohrenbetäubend laut, aber auch hier bremst die Angst das zu tun, was eigentlich zu tun wäre.
Wie ein schrecklicher Virus hat die Hamas das palästinensische Volk befallen, aber nicht alle sind infiziert. Das Angst behaftete Schweigen der Mehrheit in totalitären Systemen wiederholt sich immer wieder in der Geschichte. Es war schon immer schwierig, in diesem heilig-unheiligen Land zu leben, wenn man sich nicht mit Scheuklappen in die Kuschelecken der wunderschönen Pilgerorte zurückzog und für sich selbst die harte Wirklichkeit dieses zerrissenen Landes auszublenden versuchte. Mit ist das nie gelungen aber ich habe es auch nie versucht.
Seit Samstag, seit dem Massaker an Simchat Torah, jenem sonst von Freude, Tanz und Ausgelassenheit bestimmten, heiteren Festes geht das erst recht nicht mehr. Das, was am Samstag passierte, übersteigt alles, was dieses Land an Entsetzlichem schon erlebt hat, und es hat viel erleben müssen. Mir wird es für immer unbegreiflich sein, wie ein Mensch in der Lage ist, sich vor ein Kind zu stellen und es zu erschießen. Keine eigene Verletzung, kein am eigenen Leib erlittenes Unrecht kann das brutale Rachegefühl rechtfertigen, das in der Lage ist, feiernde junge Menschen einer Rave-Party auf grausamste Weise zu töten.
Und das Töten hört nicht auf. Die Bomben auf Gaza treffen und zerstören die Terrornester der Hamas, aber es sterben auch Kinder, Frauen und Männer, die nichts mit diesen Banditen zu schaffen haben.
So ist das im Krieg und den haben wir jetzt. Ich bleibe trotzdem hier. Das Angebot, ausgeflogen zu werden, habe ich abgelehnt. Ich lebe gern hier in guten Tagen und kann nicht einfach gehen, wenn es schwierig wird. Das können die Menschen hier auch nicht. Die Erfahrung der eigenen Hilflosigkeit angesichts des Schreckens, nichts tun zu können, muss ich aushalten.
Nach stundenlangem Schlangestehen mit vielen anderen mein Blut gespendet zu haben, gibt ein winzig kleines Gefühl nicht sinnlos hier zu bleiben. Es wird viel zu analysieren geben, wie es zu dieser Situation kommen konnte, die sich eher verschlechtern als verbessern wird, man wird noch mehr erkennen, wie das menschenverachtende Unrecht der Besatzung den Hass der Unterdrückten geschürt hat, aber jetzt überwiegt die unendliche große Trauer.
Ich weine mit den Familien der Israelis, die auf die fürchterlichste Weise ihre Liebsten verloren haben und ich weine auch mit den unbeteiligten Familien in Gaza, die das ebenso tun oder in den kommenden Tagen tun müssen.
Shalom für Israel, Salam für Palästina! Trotz allem und gerade deswegen.„
Foto: Lichter setzen beim Friedensgebet in der Petrikirchengemeinde in Herford @Jürgen Escher