Wieviel ist ein Flüchtlings-Leben wert in Europa?

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105-D
Gerettete Flüchtlinge auf der Cap Anamur, Mittelmeer, 2004

16.03.2015
Im Mittelmeer ertrinken jedes Jahr Hunderte von Menschen- es interessiert in Europa niemanden mehr! Erst vor ein paar Tagen ist vor Libyen ein Boot mit über 500 Flüchtlingen gekentert. Man spricht von cirka 400 Ertrunkenen. Soviel wie noch nie zuvor!
Während wir hier über Aufnahmezahlen, Bedingungen und Zumutbarkeiten diskutieren, ertrinken im Mittelmeer weiter die Menschen. Wir dürfen sowas nicht zulassen- aber es passiert nichts!
Schon für über 10 Jahren (siehe Text unten) habe ich mich deswegen geschämt, Europäer zu sein! Meine Frage an uns Alle: „Wieviel ist ein Flüchtlings-Leben wert in Europa?“

»Schiff Cap Anamur«, Mittelmeer, 01.07.2004
Wir liegen vor Sizilien in internationalen Gewässern, an Bord 36 Bootsflüchtlinge aus Afrika. Kurz nach dem Frühstück wollen wir in den Hafen Porto Empedocle einlaufen. Die Genehmigung dafür bekamen wir am Tag vorher. Ich stehe auf der Brücke, als das Telefon klingelt. Kapitän Stefan Schmidt erhält ohne Begründungen das Verbot, in den Hafen einzulaufen. Elias Bierdel und der Kapitän diskutieren die Situation. Das internationale Seerecht verpflichtet die Häfen, Schiffe mit Schiffbrüchigen einlaufen zu lassen. Ab jetzt steht das Telefon nicht mehr still.
Kurze Zeit später ist unser Schiff umzingelt von italienischen Kriegsschiffen, Turboschnellbooten der Guardia Finanzia und verschiedenen Polizeibooten inklusive der Einwanderungsbehörde. Aufklärungsflugzeuge überfliegen das Schiff. Niemand nimmt Kontakt mit uns auf, aber das ständige Umkreisen der Turboschnellboote löst bei uns allen großes Unbehagen aus. Die Gesichter der Flüchtlinge erzählen Bände. Gerettet aus Seenot, müssen sie jetzt erleben, dass zur Begrüßung in Europa Kriegs- und Polizeischiffe auf sie warten. Ist dies eine Antwort auf die ungelösten Fragen? Aufrüstung im Mittelmeer statt ernsthaften Bemühens um Lösungen? Ich schäme mich in diesem Moment, Europäer zu sein.“ ( Textauszug von Jürgen Escher aus dem Buch „LebenHelfen“, Stuttgart 2005)

Ich habe auch keine Lösung-aber Nichtstun darf keine Lösung bleiben!

Nachtrag vom 19.04.2015
Der Spiegel erscheint ja jetzt immer schon am Samstag. Der Leitartikel im aktuellen Spiegel ist vom Journalisten Jürgen Dahlkamp und beschäftigt sich mit der Flüchtlingsproblematik im Mittelmeer. Der Artikel heißt: „Unsere Toten. Wir leben, wie wir wollen. Und deshalb wird das Sterben im Mittelmeer weitergehen.“ Es ist eine ernüchternde Bilanz über unsere Unfähigkeit, Probleme wirklich lösen zu wollen. Er endet mit dem Satz: “ Wir haben uns nun einmal entschieden. Für uns. Alles andere ist Selbstbetrug.“ Er hat wahrscheinlich Recht!?

Gerade gelesen, dass im Mittelmeer wieder fast 700 Flüchtlinge ertrunken sein sollen. Wieviel Menschen müssen im Mittelmeer noch ertrinken, damit endlich was passiert?