Am letztem Sonntag (22.09.2013) wurde in der Zwingli-Kirche in Schaffhausen (Schweiz) meine Ausstellung „Menschenleben“ mit einem Gottesdienst beendet. Gehalten hat die Predigt Pastor Wolfram Kötter, den ich schon sehr lange kenne und schätze. Zusammen haben wir schon einige spannende Foto-Projekte realisiert. Mich haben diese Worte tief bewegt-deswegen werde ich sie hier auch ungekürzt veröffentlichen. Lassen Sie sich bitte darauf ein, Sie werden es nicht bereuen!
„Liebe Gemeinde.
Es war das Unwort des Jahres 2004. Jedes Jahr wird ja ein Begriff gekürt, den es eigentlich gar nicht geben sollte. „Unwortverdächtig“ sind Wörter oder Formulierungen, die gegen das Prinzip der Menschenwürde und der Demokratie verstoßen oder die einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren. Das Unwort des Jahres 2004 war der Begriff „Humankapital“, übersetzt „Menschliches Geld“ oder „Menschengeld“. Entstanden ist der Begriff in der Welt der Versicherungen, denn die hatten zu klären, wie etwa versicherungstechnisch der Wert eines Menschen bestimmt werden kann, wenn er etwa durch einen Unfall nicht mehr erwerbsfähig sein kann. Oder welche Schadenssumme oder eben Humankapital zu zahlen ist, wenn ein Mensch durch einen unverschuldeten Autounfall ums Leben kommt.
Doch dem voraus gingen schon andere Diskussionen und Fragestellungen. So hat vor einigen Jahren Professor Donald T. Forman aus Illinois mit Blick auf die Wertigkeit eines Menschen ausgerechnet, dass die chemischen Stoffe, aus denen der Mensch besteht, einen Gesamtwert von etwa 14 Euro haben. Der Biochemiker Harold J. Morowitz von der Yale-Universität hat zusammengerechnet, was die hochorganisierten chemischen Verbindungen kosten müssten, die aus den billigen Grundstoffen in unserem Körper entstehen, und kam zum Schluss: Ein Durchschnittsmensch von 150 Pfund Gewicht ist an die sechs Millionen Dollar wert.
Glauben wir den Menschenrechtsbewegungen, dann hat der 40jährige Mann aus Jemen 10.000 saudische Rial oder 2.400 CHF bezahlt, der die achtjährige Rawan Anfang September in Meedi in der Provinz Hadschdscha gekauft hat. In der Hochzeitsnacht hat sie beim Geschlechtsverkehr so schwere innere Verletzungen erlitten, an denen sie wenig später gestorben ist. 2.400 Franken für ein Menschenleben.
Wie viel wiegt ein Menschenleben? Welchen Wert hat es? Können wir die Wertigkeit eines Menschen festschreiben? Und ist ein Menschenleben überhaupt mit Geld aufzuwiegen?
Drei Wochen hatten wir die Gelegenheit, diese wunderbaren Fotografien hier in der Kirche zu sehen und Lebensgeschichten kennenzulernen. So sind diese Bilder lebendig geworden. Hinten an der Holzwand hängen einige Portraits von Menschen, die hier in der Schweiz um Asyl bitten (Anmerkung: diese Fotografien sind von dem Journalisten Indika Gamage). Die Bilder sind in schwarz-weiss gehalten und manche Gesichtshälften so abgedunkelt, dass wir Gesichter nur erahnen können. Diese Menschen hatten die Möglichkeit, aus ihrer Heimat, in der sie keine Überlebensmöglichkeit sahen, zu fliehen, oft unter abenteuerlichen Umständen. Hier, in der Schweiz, bei uns werden sie zu Bittstellern. Zu Bittstellern in der Hoffnung, dass die Mitarbeitenden in den Schweizer Behörden ihrer Bitte um Asyl stattgeben. Dass sie ihrer Geschichte Glauben schenken. Dass sie die politische Situation in ihrem Heimatland richtig einschätzen. Nicht immer wird Asyl gewährt und dort, wo es einen negativen Bescheid gibt, werden diese Menschen dann rausgeschafft.
Die grossen Bilder zeigen allesamt Menschen, die keine Möglichkeit haben, aus ihrer Heimat zu fliehen, obwohl sie kaum eine Überlebensmöglichkeit haben oder oft nur unter erschwerten, oft unter menschenunwürdigen Bedingungen ihr Leben leben können. Ob wir zu Bittstellern für sie werden? Setzen wir uns ein dafür, dass in diesen Ländern ein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird? Schöpfen wir unsere Kompetenzen und die politischen und auch finanziellen Möglichkeiten aus um darauf hinzuwirken, dass in diesen Ländern die Menschen zumindest mit dem Nötigsten versorgt werden?
Nach der Ausstellungseröffnung vor drei Wochen sprach mich ein Gemeindemitglied an und sagte: „Weisst du, eigentlich fehlt unter diesen Bildern eine Fotoleiste oder eine Fotoreihe! Nämlich die Fotos, die zeigen, was alles bei uns in unserer Wohlstandsgesellschaft auf den Müll geworfen wird: von Lebensmitteln bis hin zur Garderobe. Die Güter sind ungleich verteilt!“
Wie viel wiegt ein Menschenleben? Welchen Wert hat es? Können wir die Wertigkeit eines Menschen festschreiben? Und ist ein Menschenleben überhaupt mit Geld aufzuwiegen? Wenn wir vorne auf das Gottesdienstprogramm schauen, sehen wir einen neugeborenen Jungen aus Sierra Leone. Sierra Leone – und das könnte der Fotograf Jürgen Escher uns besser erzählen – versucht seit dem Ende des grausamen Bürgerkriegs im Jahr 2000 das Land wiederaufzubauen. Die Folgen des Bürgerkriegs, in dem viele Kinder als Kindersoldaten zwangsrekrutiert wurden, sind so verheerend, dass es immer noch eines der ärmsten Länder der Welt ist. Laut dem Kinderhilfswerk UNICEF hält Sierra Leone bei der Kinder- und Müttersterblichkeit traurige Rekorde: Fast jedes dritte Kind erlebt hier nicht einmal seinen fünften Geburtstag. Knapp 2 % aller Frauen sterben während der Schwangerschaft oder der Geburt eines Kindes. Viele Kinder sind chronisch mangelernährt und daher besonders anfällig für Infektionskrankheiten wie Malaria. Für ein Drittel aller Todesfälle bei Kleinkindern ist Malaria verantwortlich. Die Lebenserwartung liegt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation für 2006 bei 42,6 Jahren. Damit zählt Sierra Leone zu den fünf Ländern mit den niedrigsten Lebenserwartungen weltweit. Die Kinderarbeit ist extrem hoch. 48 % aller Kinder zwischen 5 und 14 Jahren müssen teilweise schwere Arbeiten verrichten.
Vor diesem Hintergrund sehen wir ein solches Bild anders: Zu wissen, dass dieser Neugeborene vielleicht nur fünf Jahre alt werden wird, müsste einen Aufschrei des Entsetzens in uns laut werden lassen. Zu wissen, dass dieser Junge eines Tages sein Brot damit verdienen wird, dass er in den Müllbergen, die wir auf dem anderen Bild von Sierra Leone sehen, dass er in diesen Müllbergen Essbares sucht oder nach bei uns ausgedienten Handys Ausschau hält, um die wertvollen Rohstoffe, die wir im Handy finden, zu Geld zu machen, müsste uns grün und rot vor Scham werden lassen. Das Leben dort – und nicht nur dort – so scheint es, ist ein einziger Kampf um das Überleben. Vielleicht tut deswegen das Bild der badenden Kinder in Bangladesh so gut. Trotz der Armut und des Mangels freuen sich diese Kinder über das Leben, geniessen das Baden im Fluss. Ausgelassene Freude über das Leben.
Wie viel wiegt ein Menschenleben? Wir als Christen, so sagt es der Apostel Paulus, haben den alten Menschen abgelegt und wir sind zu einem neuen Menschen geworden. Und als ein solch neuer Mensch leben wir in einer Solidargemeinschaft mit allen Völkern, zeigen uns solidarisch mit allen Menschen. Griechen und Juden hat Paulus genannt, Beschnittene und Unbeschnittene, Frem-de, Sklaven und Freie. Paulus nennt die Menschen und Religionen aus der damals bekannten Welt. In seiner Tradition stehend liegen uns als Christen alle Menschen am Herzen – ausnahmslos. Wenn wir diese Worte des Apostel Paulus ernst nehmen, dann gibt es nichts Trennendes zwischen uns Menschen. Paulus malt uns hier ein Bild von einer Gesellschaft, das visionäre Züge hat. Es ist für ihn nicht nur eine Gedankenspielerei, nicht nur ein Traum oder eine Utopie, also etwas, das nicht verwirklicht werden kann, sondern ein Lebensziel, ein Ziel, auf das es lohnt, hinzuarbeiten und hinzuwirken. Er ist aus tiefstem Glauben davon überzeugt, dass Gott keine Unterschiede zwischen uns Menschen macht, sondern dass er eine Gesellschaft will, in der jeder Mensch die gleichen Rechte und die gleichen Pflichte, aber eben auch den gleichen Wert hat. Keine Zwei- oder gar Drei-Klassen-Gesellschaft, sondern immer und immer wieder neu Begegnungen auf gleicher Augenhöhe. Von Angesicht zu Angesicht.
Paulus greift damit einen Gedanken auf, der sich wie ein roter Faden durch die Schriften des Alten und des Neuen Bundes zieht. Der Gedanke, der besagt, dass Gott uns Menschen geschaffen hat, dass wir ihm zum Bilde geschaffen sind und dass wir als von ihm Geschaffene vor seinem Angesicht die gleiche Wertigkeit haben – ganz gleich, wer oder wo auch immer wir sein mögen. Wie sagt es der achte Psalm: „Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.“
Wahrlich nicht immer für die Welt, aber immer in den Augen Gottes sind wir geadelt und gekrönt. Das gilt für den Neugeborenen in Sierra Leone, das gilt die Kinder im Waisenhaus in Nordkorea, das gilt für die Flüchtingsfamilien im Sudan und im Kongo, das gilt für die Flüchtlinge und für die Ertrinkenden vor Lampedusa. Seit Jahresbeginn – so die Weltflüchtlingshilfe – sind über 21.000 Migranten in Süditalien eingetroffen. Wie viele nicht eingetroffen sind, weil Boote gekerntert sind, lässt sich nur erahnen. Die meisten Migranten stammten aus Eritrea, Somalia und Syrien.
Bei der Vorbereitung auf den heutigen Tag bin ich auf die folgende Geschichte gestossen, die wie eine Zusammenfassung gelten mag und mit der ich schliessen möchte:
Ein wohlbekannter Professor begann seinen Vortrag, indem er einen 50 Euro Geldschein aus seinem Portemonnaie entnahm, und ihn dem Publikum zeigte. Er fragte: „Möchte irgendjemand von Euch diesen Geldschein?“ Aus den Reihen der Zuschauer waren erhobene Hände zu sehen. Dann sagte er: „Diese 50 Euro werde ich einem von Euch gleich geben; doch bevor ich das tue, erlaubt mir bitte noch etwas damit zu tun.“
Dann zerknüllte er mit voller Kraft die Banknote zu einem kleinen schäbigen Papierknäuel; und erkundigte sich erneut: „Möchtet Ihr immer noch diesen Geldschein haben?“ Erneut hoben viele aus dem Publikum die Hand. „Okay, okay, einverstanden; aber was würde geschehen, wenn ich das täte?“ Er warf den schon ziemlich lädierten kleinen zerknüllten Schein auf den Boden und sprang und trat mit beiden Füßen darauf, wieder und wieder, ihn auf dem Boden des Hörsaals zerreibend, bis er völlig verdreckt war. Erneut, wollte er wissen: „Möchte jetzt irgendjemand immer noch diesen Geldschein haben?“ Natürlich nahm die Anzahl erhobener Hände kein kleines bisschen ab.
„Meine Freunde, Ihr habt gerade eine Lektion gelernt… Es spielt keine Rolle, was ich mit diesem Geldschein tue; Ihr wollt ihn immer noch, weil sein Wert sich nicht geändert hat. Er beträgt immer noch 50 Euro. In Eurem Leben werdet Ihr Euch oft zerknüllt, abgewiesen, missbraucht, beschimpft und zertreten fühlen, von Menschen oder Ereignissen. Ihr werdet unter dem Eindruck stehen, dass Ihr ein wertloses kleines Stück Mist geworden seid. Doch in Wahrheit hat sich Euer Wert keinen Millimeter geändert, in den Augen derjenigen, die Euch lieben! Der Wert eines Menschen hängt nicht von dem ab, was er tut oder nicht tut. Ihr könnt immer wieder von vorn anfangen, und Eure Ziele erreichen, weil Euer eigener innerer Wert immer unangetastet bleiben wird.“